Transformation oder Entgrenzung – Geschichtslehrer des GfB äußert sich

Von Ulrich Schnakenberg ; FAZ, 20.1.2022

Ein wichtiges Schlagwort in der derzeitigen Diskussion ist die Forderung nach Medienkompetenz. Darunter versteht man zum einen eher technische Kenntnisse von den neuen Geräten und Applikationen und zum anderen die Fähigkeit zum kritisch-konstruktiven Umgang mit den angebotenen Inhalten. Unbestritten muss die Digitalisierung als der Megatrend des 21. Jahrhunderts in ihrer Bedeutung und mit ihren Folgen fächerübergreifend thematisiert werden. Allerdings ist es ein Irrtum zu glauben, Schüler würden Fake News im Netz alsbald zielsicher erkennen, indem sie sich einige Stunden mit Theorie, Hintergründen und praktischen Beispielen von Desinformation auseinandergesetzt haben. Gegen „Fakes“ helfen letztendlich nur „Facts“, also umfangreiches Hintergrundwissen, beispielsweise zu den aktuellen Aufregerthemen wie Klima, Corona oder Migration. Das zu erwerben kostet Zeit, die nicht einfach der Forderung nach dem Erwerb einer unspezifischen Medienkompetenz zum Opfer fallen darf.

Große Erwartungen setzen Digitalbegeisterte auf die sich neu eröffnenden Chancen einer stärkeren Differenzierung des Unterrichts. Auf die Spitze getrieben, stellt sich in der digitalen Schule der Zukunft jeder Schüler je nach individuellen Bedürfnissen und Interessen sein eigenes Lernmenü zusammen, das er dann wie einen Wochenplan eigenständig abarbeitet. Für motivierte Schüler ist ein solches Vorgehen ebenso attraktiv wie lernwirksam. Weniger motivierte, schnell abgelenkte Lernende sind mit einem solchen Maß an Selbstverantwortung jedoch schnell überfordert oder scheitern an den unbegrenzten Ablenkungsangeboten des Internets. Vorsicht also vor einer möglichen Rückkehr der gescheiterten Selbstlernidyllik im neuen Gewand!

Auch wenn manchem Visionär einer radikalen Umgestaltung der Schulen am Ende ein „Lernen ohne Lehren“, vielleicht sogar ein Lernen (fast) ohne Lehrer vorschwebt: zunächst einmal fällt den Lehrkräften in der angestrebten digitalen Transformation eine zentrale Rolle zu. In der Folge werden sie aktuell mit Fortbildungsangeboten zum Thema neue Medien förmlich überhäuft; zugleich sind während der Pandemie die Erwartungen der Gesellschaft an die Schule weiter gestiegen. Wenn Kollegen nun auf Wunsch der Schulleitung, Schüler und Eltern ihren analogen Unterricht zusätzlich digital in Lernmanagementsystemen abbilden sollen, so bringt dies einerseits klare Vorteile mit sich: Schüler können fortan zeit- und ortsunabhängig lernen, wiederholen und üben. Aber auch hier muss man sich fragen, ob die Lehrkräfte einen Teil der Zeit, den sie mit dem Hochladen von Dateien verbringen, nicht besser in andere Dinge investieren – etwa in die Planung guten Präsenzunterrichts, einer Exkursion oder eines Vorlesetages.

Die gestiegenen Erwartungen der Gesellschaft an die Lehrerschaft ziehen weitere Folgen nach sich. Ohne Frage war die Einrichtung von Schul-E-Mail-Adressen für alle Schüler und Lehrer sinnvoll, ja überfällig – unverständlich, dass es dafür mancherorts erst einer epidemischen Notlage bedurfte. Mit Beginn der Pandemie sind die elektronischen Nachrichten, Bitten und Fragen der Eltern wie der Schüler allerdings sehr stark gestiegen. Geht man davon aus, dass ein durchschnittlicher Gymnasiallehrer bis zu 200 Schüler unterrichtet, erhält man eine Vorstellung davon, wie die Posteingänge der Kollegen zuletzt angeschwollen sind. Dabei betrug die durchschnittliche Lehrerarbeitszeit laut verschiedenen Studien bereits vor der Gesundheitskrise oft 48 Wochenstunden und mehr.

Nicht wenige Lehrkräfte waren und sind in der Pandemie in Summe ähnlich belastet wie Altenpfleger und Intensivschwestern – mit dem Unterschied, dass die aktuelle digitale Entgrenzung wohl auch „nach Corona“ fortwirken wird. Noch mehr Lehrer mit Burn-out kann aber angesichts einer teilweise schon jetzt auf Kante genähten Unterrichtsversorgung niemand wollen. Lehrkräfte haben gegenüber ihren Schülern, dem Steuerzahler und nicht zuletzt gegenüber sich selbst eine Pflicht zur Gesunderhaltung.

Anstatt jedoch die Arbeit der Schulen in dieser Situation zu unterstützen, legen einige Verwaltungen den Kollegien eher noch zusätzliche Steine in den Weg. Ein Beispiel: Während das Land Nordrhein-Westfalen zu Beginn der Covid-Krise erstaunlich schnell reagiert und etwa seine Zentren für die Lehrerausbildung mit der Teams-Konferenzplattform ausgestattet hatte, untersagte ein Kreisdatenschutzbeauftragter kurz darauf den Kollegen und allen Schulen im Kreis die Nutzung ebenjener Plattform – und das mitten im wochenlangen Lockdown. So berechtigt Fragen nach dem Standort von Servern (Deutschland oder Übersee, sprich Vereinigte Staaten) grundsätzlich sind – muss man in einer solchen Krise nicht zwischen datenschutzrechtlichen Bedenken und dem Recht auf Bildung pragmatisch abwägen?

Eine andere Frage ist, ob wir angesichts eher randständiger Debatten über Serverstandorte nicht andere wichtige Dinge aus dem Blick verlieren. Etwa, wenn internationale Soft- und Hardwareanbieter massiv versuchen, an möglichst vielen Schulen einen Fuß in die Tür zu bekommen. Lehrerzeitschriften sind seit Neuestem voll mit entsprechenden großformatigen Anzeigen: Schließlich locken bei gut acht Millionen Schülern und knapp 800 000 Lehrern an den rund 32 000 Schulen in Deutschland Milliardengeschäfte. Die Entscheidung, welchen Produkten man im Zuge der Ausstattungsoffensive an den Schulen zu welchen Konditionen den Zuschlag erteilt, verlangt allersorgfältigste Prüfung.

Der Fortschritt ist nicht aufzuhalten; und die Schulen brauchen dringend schnelles Internet – manche sogar überhaupt Internet. Aber angesichts der immer schneller Fahrt aufnehmenden digitalen Transformation der Schulen gilt es, bei jeder Entscheidung noch sorgfältiger als bislang zu prüfen, ob es sich bei manchem „Fortschritt“ nicht doch eher um einen Rückschritt handelt. Ein aktuelles Beispiel sind die Forderungen nach Luftfilteranlagen zur vermeintlich schnellen und kostengünstigen Lösung der Corona-Krise: Zum einen sind die Ungetüme oft so laut, dass man dem Unterrichtsgespräch kaum noch folgen kann; zum anderen übersteigen die Wartungskosten bereits nach wenigen Jahren die Anschaffungskosten und belasten so dauerhaft die Haushalte der klammen Kommunen – zusätzlich zu den hohen laufenden Betriebskosten für die vielen neuen Beamer, digitalen Tafeln und Tablets.

Der Autor ist Lehrer am Gymnasium in den Filder Benden und außerdem in der Lehrerausbildung tätig.